19/07/2012

Lone Survivor

Filed under: Mac/ PC — lars @ 19:17

Die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen wie die Pixel vor meinen Augen

Mein Magen knurrt. Der Blick in den Spiegel sagt mir, dass ich auch schon mal besser ausgesehen habe. Aber wenn man bedenkt, das alle tot oder verschwunden sind, die ich kenne oder glaube gekannt zu haben, halte ich mich ganz gut. Wenn ich nicht die zerknitterten Seiten meines Tagebuchs mit meinen Gedanken füllen würde, wäre wohl am Morgen keine Spur meiner Erinnerungen zu finden. Bei dem Grauen, dem ich mich da draußen täglich stelle, kann das auch von Vorteil sein.
Irgendwer hat auf den Fluren Briefe hinterlassen, die sich als äußerst hilfreich erwiesen haben. Mit ihnen versuche ich eine Spur von Sinn in die Ereignisse zu bringen, die nur eine Ausgeburt meiner zertrümmerten Psyche sein können. Seltsame Figuren tauchen auf und verschwinden wieder. Weißgesichtige Fremde, die aus einem David Lynch Film stammen könnten. Verrückte mit Kartons auf dem Kopf, die sich nicht zu erkennen geben wollen. Der Typ, der sich der Regisseur nennt und in Zimmer 204 wohnt – hat er die Fäden in der Hand? Irgendwie fange ich an, ihn zu mögen. Immerhin ist er die einzige Konstante meiner Halluzinationen und lässt mich nicht im Stich, wenn die Vorräte mal wieder knapp werden.
Die Dosen mit Bohnen oder einem Fruchtcocktail sind rar. Wenn ich nur eine Gaskartusche hätte, könnte ich mir den Reispudding wenigsten erwärmen. Beim Blick in den Kühlschrank muss ich unweigerlich an den vergammelten Truthahn bei „Manic Mansion“ denken und lache heiser. In dieser Pixelhölle verschafft mir der modrige Fraß wenigstens eine kleine Atempause vor den Kreaturen da draußen. Wenn sie sich mit gierigen Schlinggeräuschen auf das verrottete Fleisch stürzen, komme ich an ihnen vorbei, ohne dass sie nach mir schnappen oder mir Blut ins Gesicht kotzen.
Wenigstens sind die Bastarde leicht zu durchschauen und im Zweifelsfall mit ein paar Schuss niederzustrecken. Aber ich nutze jede Gelegenheit, um sie zu umgehen. Nach meiner Begegnung mit dem Obermotz am Fahrstuhl will ich lieber kein Risiko eingehen. Irgendwie muss ich es in den Keller locken, dafür aber erstmal den Lift wieder in Bewegung setzen. Eine Sicherung hab ich dafür schon in einem der unzähligen Räume gefunden. Aber das Labyrinth aus Gängen da unten ist schwer durchschaubar, selbst mit der Karte, die ich bei mir trage. Überall klaffen Löcher oder Trümmer versperren den Weg. Gut, dass ich meine vier Wände habe, ein Hafen in der peitschenden See aus Zombies und namenlosen Irren. Hier bin ich sicher. Hier kann ich speichern.
Vieles in dieser atmosphärisch dicht erzählten Geschichte, die dem Hirn Jasper Byrnes entsprungen ist, wirkt bekannt und das ist gut so. Ich bin durch die Gänge von Racoon City und „Silent Hill“ geschlichen, dem „Dreamweb“ entkommen, dem heraufkriechenden Wahn der „Eternal Darkness“ und mit den Grundsätzen des Überlebens nach dem Fallout bin ich bestens vertraut. Erfahrungen, die hilfreich sind im täglichen Kampf gegen die Brut. Die 2D-Optik wirkt dabei wie ein Anachronismus. Die fehlende Dimensionsebene, die abwesenden Bildschirminformationen und die niedrige Auflösung spielen dem Schrecken zu, den „Lone Survivor“ verbreitet. Ich bin allein. Kein Tutorial bereitet mich auf die Dinge vor, die mich erwarten. Byrne, der bereits vor vier Jahren in einem Demake sein Lieblingsspiel „Silent Hill 2“ auf das Wesentliche reduzierte, kennt das Genre wie sein Inventarfenster. Der Verzicht auf Erklärungen ist Konzept und macht sein Werk zu einem außergewöhnlichen Horrortrip.
Die Angst vor unendlich lang erscheinenden Gängen, in denen die Beleuchtung gerne mal komplett ausfällt, kann mir die Erfahrung trotzdem nicht nehmen. Nie weiß ich, was mit dem nächsten Bild unweigerlich auf mich zuscrollt. In den grobmaschigen Bildpunkten meiner Umgebung sind Gesichter nur schwer auszumachen. Immer wieder verschiebt sich meine Wahrnehmung und Schlieren aus Dreck und Risse trüben meine Optik. Die verstörende Soundkulisse zieht mich tiefer in den Wahnsinn.
Mein Verstand verabschiedet sich sukzessive und es wird am Ende keine Antworten geben auf die Fragen, die mit jedem Tag mehr werden. Wird es das Ende des Schreckens sein oder das unausweichliche, das uns alle ereilt? Sind beide eins? Wenn ich in Träume abgleite und das Mädchen sehe, neben ihr auf dem Hügel über der Stadt sitze, bin ich tot, oder endgültig dem Wahnsinn verfallen? Wer ist sie? Eine vage Ahnung steckt in meinem Kopf wie ein verblasstes Foto, auf dem nur noch Schemen zu erkennen sind und das warme Gefühl von etwas Vertrautem.
Eine Woche ist es nun her, dass ich in meinem Appartement erwachte und die Welt in Flammen stand. Eine Woche, oder ein Jahr? Wie lange versuche ich schon diesem Alptraum zu entkommen? Wie oft bin ich gescheitert? Ich weiß es nicht und es bleibt mir nur vorwärts zu blicken und zu versuchen, der Freiheit jeden Tag einen Schritt näher zu kommen.
Eine Woche – wenn ich mir ansehe, wo ich heute bin, sieht es gar nicht so übel aus für mich. Ein Revolver, eine Taschenlampe, ein paar Clips und Batterien und eine Handvoll Dosen und Cracker füllen mein Inventar. Alles, was ich am Anfang hatte war meine X-Taste. Ich werde wohl noch ein paar Tage durchhalten und – wer weiß – vielleicht schaffe ich es ja raus, aus dieser Pixelhölle.

System PC, Mac (Download)
Entwickler superflat games
Termin erhältlich
Preis 10 Euro